Slut

In Interviews von Eric

Die 1994 gegründeten Ingolstädter Indie-Rocker Slut waren nie die schnellste Band, was Veröffentlichungen angeht. Acht Jahre zwischen dem vorherigen und dem aktuellen Album „Talks Of Paradise“ ist aber auch für ihre Verhältnisse lang. Sie bräuchten Zeit, bis sie etwas fänden, dass sie interessiert, um sich nicht zu wiederholen, erklärt Chris Neuburger im Interview per Video-Call dazu. Der gut gelaunte Frontmann wirkt im Gespräch sehr reflektiert, was das eigene Schaffen angeht, und gleichzeitig sehr zufrieden, was die neue LP betrifft.

Soundmag: Wie herausfordernd hast du als Musiker die Corona-Zeit erlebt?

Chris: Es muss vorangestellt werden, dass wir als Band Slut nicht primär von der Musik leben müssen. Das unterscheidet uns von vielen anderen, denen es anders ergangen ist. Insofern können wir da gar nicht wirklich mitreden. Trotzdem müsste man der Vollständigkeit halber darauf hinweisen, dass die Auszeit, die Corona in Form von mehreren Lockdowns nach sich gezogen hat, im Grunde nicht so schlecht war für die Intensität, mit der wir uns der Platte in ihren Endzügen voll und ganz widmen konnten. Uns wurde ziemlich viel Zeit eingeräumt für das letzte Jahr mit dieser Platte, und das war eigentlich entscheidend. Hätten wir ein Jahr weniger Zeit gehabt, wäre das Ergebnis ein anderes gewesen.

Soundmag: Ihr wart also dankbar, dass ihr mehr Zeit hattet, an dem Album zu feilen?

Chris: Nicht nur zu feilen. Der Winter 2020/2021 hat noch einmal ziemlich viel verändert oder zumindest klar gemacht. Erst da wussten wir, wie die Platte aussehen und klingen könnte. Erst da fielen wesentliche Entscheidungen. Wir hatten die Gelegenheit, bestehende Arrangements und Stücke umzukrempeln. Im Dezember und Januar sind außerdem drei bis vier Stücke komplett neu hinzugekommen. Der Groschen, wie die Platte klingen könnte, ist erst 2020 gefallen, und da war die Single „For The Soul There Is No Hospital“ nur ein Vorbote. Bis alle anderen Stücke aufschließen konnten, hat es gedauert. Die Zeit war sehr wichtig.

Soundmag: Liegt das auch daran, dass seit dem letzten Slut-Album acht Jahre vergangen sind, ihr also erst wieder reinfinden und auch zueinander finden musstet?

Chris: Nach der letzten Tour haben wir gute drei Jahre komplett pausiert. Das war auch der Vorsatz, dass es eine Unterbrechung geben muss – nach 20 Jahren Bandhistorie ist das vielleicht nicht die schlechteste Idee. Der Vorsatz wurde auch eingehalten, bis einige von uns dem Drang, Musik zu machen, erlegen sind. Das war vor exakt vier Jahren, und vier Jahre sind bei Slut keine Ausnahme. Wir haben schon immer sehr gebraucht, bis wir etwas gefunden haben, das uns interessiert – um nicht dieselbe Platte nochmal aufzunehmen, dieselbe Tour nochmal zu spielen. Das Zueinander finden ging aber sehr schnell.

Soundmag: Du hast mal gesagt, dass Slut eine sehr langsame Band sind. Das hat sich damit noch einmal bestätigt.

Chris: Absolut. Es dauert echt lange bei uns. Das Zeug muss herumliegen und vor sich hin gären, erst dann kann man es verwerten. Wir brauchen lange, bis wir an den Punkt kommen, an dem es uns Spaß macht und es wirklich etwas anderes, neues ist.

Soundmag: Gab es in den drei Jahren Pause Überlegungen, mit der Band ganz aufzuhören?

Chris: Einer hat sich für die neue Platte tatsächlich rausgenommen, und zwar unser Schlagzeuger, mein Bruder Matthias. Er hat gesagt, er möchte erstmal nicht dabei sein. Ob das ein Abschied für immer ist, lassen wir offen und er auch. Das ist etwas Unausgesprochenes. Ich kann das sehr gut nachvollziehen – er war 14 oder 15, als er zu uns gestoßen ist, die Musik hat mehr als sein halbes Leben mitbestimmt. Das man da nach 20 Jahren sagt „Nächste Runde ohne mich“ ist durchaus nachvollziehbar.

Soundmag: Wie haben du und deine Kollegen die Pausen-Jahre verbracht?

Chris: Die Band Pelzig, mit der wir zwei Mitglieder teilen, ist weitergelaufen, genauso wie Musiken für Theaterstücke – von Bandmitgliedern gemacht, aber nicht für die Band. Sonst gab es keine großen künstlerischen Aktivitäten.

Soundmag: Du und Gitarrist Rainer Schaller habt als Startschuss des Albums eine Writing Session in Athen verbracht. Wie muss man sich das vorstellen?

Chris: Das war schon sehr besonders. Erstens weil es etwas ins Rollen gebracht hat und zweitens ein unkonventioneller Ort mit unkonventionellen Rahmenbedingungen war. Also alles außer das gewohnte, vertraute Umfeld. Das war auch eine bewusste Entscheidung. Rainer kam im Winter 2016 nach Ingolstadt und sagte: „Wir sollten mal etwas zusammen machen, das wird doch immer ganz interessant, egal was wir machen.“ Dann sind wir nach Athen geflogen mit relativ wenig Equipment. Was dort ziemlich schnell und in relativer Kompaktheit entstanden ist, war schon eine Art Auftakt. Als wir heimgeflogen sind, dachten wir, wir hätten fünf fertige Lieder geschrieben. Dem war natürlich nicht so, aber von den fünf sind drei komplett und zwei in Einzelteilen auf der Platte gelandet. Also schon eine gute Ausbeute. Es war toll, acht bis zehn Stunden am Tag in einer verlassenen Wohnung zu spielen, aufzunehmen, zu arrangieren und dann nachts durch Athen zu laufen.

Soundmag: Was ist heute anders beim Songschreiben als vor 20 Jahren?

Chris: Die Balance zwischen Kopf und Bauch, wo fängt man an – das war seit jeher unser Thema. Ich glaube schon, dass es sich ein Stück weit Richtung Bauch bewegt hat in den letzten 20 Jahren. Man scheut keine Idee mehr, bevor man sie den anderen vorträgt. Was sich gar nicht geändert hat: wie man das im Bandkontext bewertet, wie man sich signalisiert, dass etwas im Entstehen ist. Eitelkeiten gab es früher auch nur wenig, die sind jetzt ganz verflogen. Man weiß heute noch, wer wofür steht, wer welche Musik gut findet. Man täuscht sich aber auch gerne, und ich täusche mich wirklich sehr gerne in anderen. Das ist eine Konstante.

Soundmag: Auf dem neuen Album sind Synthesizer diesmal viel präsenter als Gitarren…

Chris: Ich musste schon mehrfach einen kleinen Irrtum ausräumen, vielleicht jetzt auch: es sind echte Instrumente zu hören, vor allem echtes Schlagzeug, echte Bassgitarre, echte alte Synthesizer. Man wird eventuell live sehen, dass es auch eine Band-Platte ist, die vielleicht elektronischer klingt, als sie müsste, aber wir haben es ganz bewusst in diese Richtung geschraubt: echte Bässe, echtes Schlagzeug, echte Gitarren. Weil uns dieses abgespeckte Klangspektrum von Anfang an überzeugt hat. Uns hat es nicht sonderlich interessiert, mit welchem Instrument wir zum Klingen bringen, was uns vorschwebt. Wir haben erfahren, dass man auch mit Keyboards eine Dramaturgie und eine Drastik erzeugen kann – was wir früher mit Laut-Leise oder vier Gitarren übereinander gemacht haben. Trotzdem ist es am Ende ein Slut-Lied.

Soundmag: Einerseits finde ich, die Songs klingen anders als bisher von euch gewohnt. Andererseits hat mich der Synthie-Sound von einigen Songs an Stücke von „Lookbook“ erinnert, das in diesem Jahr auch noch 20. Geburtstag feiert. Es gibt also gewisse Verbindungen…

Chris: Das freut mich, dass du das hörst, dass das eben nicht nagelneu für uns als Band und durchaus schon vorgekommen ist. Und wenn man sich dann noch unsere Theatermusiken anhört, bestätigt das, was du sagst. Es ist nicht so, dass wir komplettes Neuland betreten haben. Wir haben einfach nur ganz bewusst ein paar Gitarren in der Ecke stehen lassen (lacht).

Soundmag: „Penny Changes Dresses“ ist wahrscheinlich der tanzbarste Slut-Song ever. Hattet ihr Bock auf Disco, wolltet ihr die Leute zum Tanzen bringen?

Chris: Würdest du die Vorgängerversionen von „Penny…“ kennen, und da gab es drei, dann würde dir die Antwort auf diese Frage auch schwerfallen, so wie mir jetzt. Es war mal sehr langsam, dann ultraschnell, da hätte kein normaler Durchschnittstänzer dazu tanzen können. Was jetzt hörbar ist, ist dem Refrain geschuldet, der erst kurz vor knapp entstanden ist, an den wurden Tempo, Rhythmik und Instrumentierung angepasst. Dadurch hat sich das ganze Lied, vor allem die Strophen, verändert. Disco ist für mich kein Schimpfwort, kein K.O.-Kriterium, ich mag das ziemlich gerne, vor allem Disco der 70er/80er-Jahre. Ich finde, die Beschwingtheit passt zu dem Text, und da war mehr der Text das Zugpferd und weniger der Puls der Musik. Diese Penny, die mal da ist, mal verschwindet, die in dem Strudel von Möglichkeiten und Optionen zu versinken droht und immer dann, wenn es verbindlich wird, einfach abhaut. Dieses getrieben Sein hat das Tempo des Liedes nahegelegt.

Soundmag: Das Abschlussstück „Black Sleep“ ist rein instrumental. War das von vornherein so angelegt oder ist dir nur kein guter Text eingefallen?

Chris: (lacht) Das ist speziell bei dieser Platte: Wir haben Spuren eliminiert bei den einzelnen Songs und ich habe dann begonnen, Textzeilen zu eliminieren. Es gab viel mehr Text, als jetzt hörbar ist. „Black Sleep“ war von Anfang an ohne Text und es war das Ansinnen, etwas Ruhe in dieses doch sehr vollgepackte Album zu kriegen – nicht mit einer traurigen Schlusszeile, sondern mit gar keinem Text. Das wiederum referenziert nicht auf „Lookbook“, sondern auf unser Album „Interference“. Da gibt es zwei Stücke, die zu meinen absoluten Lieblingsliedern zählen, das eine ist „Soda“ und das andere ist „Bussova“. Gerade „Soda“ ist ja fast schon instrumental, mit nur einer Textzeile. Dieses schöne Gefühl von Offenheit und anders Zuhören, nämlich der Musik und nicht einem Sänger, das wollte ich wiederhaben.

Soundmag: Von euren Fans und den Kritikern werdet ihr gefeiert, aber englischsprachiger Indie-Rock aus Deutschland tut sich international schwer. Gab es mal Gedanken wie „Wenn wir aus Manchester oder Glasgow statt aus Ingolstadt kämen, hätten wir mehr erreicht“?

Chris: Diese Gedanken sind in der Zeit steckengeblieben, aus der sie stammen, das war vornehmlich die Zeit, in der wir Alben wie „Lookbook“ gemacht haben. Wir selber haben diese Gedanken auch weniger gehabt, sie wurden uns aber ständig von Leuten um die Ohren gehauen: „Wenn ihr nicht aus XY kämet, sondern von der Ostküste, wärt ihr schon sonstwo.“ Das war aber auch nur Spekulation. Je mehr oder öfter man es gehört hat, desto mehr hat man damals auch daran geglaubt, und war mit Bands derselben Couleur in einer Art Schicksalsgemeinschaft verbunden. Ich weiß aber gar nicht, ob es wirklich so wäre.

Soundmag: Ist eine Tour zum neuen Album geplant? Wartet ihr, bis wieder „richtige“ Konzerte möglich sind oder könntet ihr euch auch bestuhlte Shows vorstellen?

Chris: Die Meinung bei uns ist, dass wir dann wieder touren, wenn es unter „Normalbedingungen“ wieder möglich ist. Wir arrangieren nichts um, machen auch keine Home Sessions aus den Wohnzimmern. Das wollten wir einfach nicht. Es ist eine Tour geplant für Herbst dieses Jahres, ich kann dir aber noch nicht sagen, ob das wirklich stattfindet. Ein bestuhltes Slut-Konzert fände ich seltsam. Es ist wie mit der Platte: Wir machen instinktiv nur ein Album, wenn wir denken, das ist jetzt gut, sie zu machen und zu veröffentlichen. Und wir machen auch nur Konzerte, wenn wir denken, das stimmt jetzt alles und bildet dann auch die Platte ab.