Foto: Bandfoto
So viel Power, so viele Frauen!
„Geht ihr mal alle zu The xx, Two Door Cinema Club oder wem auch immer“, denke ich mir und begebe mich auf den Weg zu Dear Reader. Denn im Gegensatz zu den beiden eben genannten Bands höre ich auch Dear Readers fünfte und somit aktuelle Platte „Day Fever“ sehr gerne und muss mich nicht ärgern, dass sie ganz neue Wege eingeschlagen haben. Auch wenn es für den einen oder anderen von Euch nicht sehr unwahrscheinlich ist, die aus Johannesburg in Südafrika stammende Band Dear Reader bereits live gesehen zu haben, da sich Sängerin Cherilyn MacNeil vor sieben Jahren in Berlin niederließ. Für mich ist es trotz allem ein langersehntes Erlebnis, da ich die Band höre, seit ich 15 bin und vor allem die Songs des zweiten Albums „Replace Why With Funny“ (dem ersten Album unter dem Namen Dear Reader) einen erheblichen Anteil an der Entwicklung meines Musikgeschmacks hatten.
Somit warte ich gespannt im Lido, dass es endlich losgeht. Der Support heißt Port Noo und wird von Cherilyn MacNeil, der Dear-Reader-Sängerin, höchstpersönlich vorgestellt, da es sich um eine gute Freundin handelt, die später auch im Chor singen wird. Ja, ihr lest richtig. Dear Reader lassen sich nicht lumpen und haben einen Chor im Gepäck, aber dazu später mehr. Port Noo stellen klangtechnisch einen sehr guten Support dar. Ruhig, weiblicher Gesang, nicht viel Gemache und Getue. Allerdings sind sie auch nicht die perfekte Band, um einem hocherwartungsvollen Publikum für eine doch eher powervolle Band wie Dear Reader einzuheizen. Nach drei Songs, in denen es beispielsweise um nicht schlafen wollende Kinder geht, ruhigen Trompeten-, Keyboard- und Gitarrenklängen, verlassen sie die Bühne, weswegen das Publikum, was aus allerhand Familien und älteren Semestern besteht, umso aufgeregter herumquasselt- und läuft.
Einigermaßen erwartungslos versuche ich an das Konzert heranzugehen, da ich weiß, dass Cherilyn ihr neustes Werk „Day Fever“ präsentieren wird, ich mich aber über jeden Song des Albums „Replace Why With Funny“ wahnsinnig freuen würde. Dazu kommt noch, dass ich mir im Vorhinein die durchgehend 5-sternigen Kurz-Reviews von Konzertbesuchern durchgelesen hatte und nun auch endlich diese „betörende und süchtig machende Stimme“ hören möchte.
Eine kurze Umbauphase später tritt Cherilyn samt Band und erwähntem Chor auf die Bühne. Eine Bühne voller Frauen, alle ein individuelles, selbstgebasteltes, aus verschiedenfarbigen Stoffen bestehendes Accessoire tragend. Auch die Instrumente sind mit geflochtenen und herabhängenden Stoffen verschönert worden.
Das Konzert umfasst alle elf Songs des neuen Albums, wie z.B. „Then, Not Now“, „So Petty So Pathetic“, „Tie Me To The Ground“, „Placate Her“ oder „If Only Is“, in welchen Angst und Unsicherheit thematisiert werden. So werden zum Beispiel beim Song „So Petty So Pathetic“ zwei Metallschüsseln aneinander gerieben, um einen unangenehmen und zugleich faszinierenden Klang zu erzeugen. Doch Drummerin Olga Nosova hat noch so allerhand andere Raffinessen und Zusatzelemente am Schlagzeug zu bieten. Immer wieder wird das Tamburin am Schlagzeug angebracht und wieder entfernt, ein Stück Alufolie oder ein Tuch auf die Trommel gelegt, sodass Nosovas Energie und Multitasking nicht wegzudenken sind. Das Quartett harmoniert durch und durch, und es ist ihnen so gut wie nie anzumerken, zumindest soundtechnisch, dass sie zum allerersten Mal gemeinsam in dieser Kombination auf der Bühne performen, dass das neue Album erst einen Tag zuvor erschienen ist und sie es live das erste Mal spielen. Die Harmonie untereinander scheint von Anfang bis Ende zu stimmen. Immer mal wieder wirft sich das Quartett verschmitzte, bedeutungsvolle Blicke zu, und Cherilyn hat sowieso durchgehend ein Lachen, inklusive der Frage, ob es ihren Kolleginnen gut gehe, auf den Lippen. Es ist wirklich schön anzusehen, wie Cherilyn sich darum sorgt, dass alle Spaß haben, und man kann sich förmlich vorstellen, dass sie auch privat reichlich Freude miteinander teilen.
Selbst die kleine Technikpanne seitens Stella Veloces elektronischem Cello wird mit Humor genommen und im nächsten Song wieder klangmalerisch beglichen. Neben Cherilyn lächelt auch Evelyn Saylor den ganzen Abend über und sorgt nicht nur für noch mehr Harmonie, sondern auch für das stimmliche Sahnehäubchen bei Songs wie „Down Under„ oder „Took Them Away“, welche beide zum 2013er Album „Rivonia“ gehören. Der Song „Victory“ und der Bonus Track „Left The Ground“ schaffen es ebenfalls auf die Setlist des Abends, doch abgerundet wird er von den beiden „Replace Why With Funny“-Schönheiten „Heavy“ und „Great White Bear“, welche mich besonders beglücken. Nicht durchgängig, aber immer passend und überraschend ausbauend, aber nie zu überladen singt der kleine Frauen-Chor und unterstützt die pianospielende Cherilyn und ihre drei Gefährtinnen, sodass Cherilyn zwischendurch ins Mikrofon säuselt, dass sie sich doch demnächst immer einen eigenen Chor wünsche. Ob nun mit Orchester, Chor, zu viert oder ganz alleine – Cherilyn weiß genau, was sie tut und wie sie ihr Publikum mit ihrer betörenden, energischen Stimme verzaubern und elektrisieren kann.
Hörenswert sind die Texte der neuen Platte so ganz nebenbei natürlich auch. Beispielsweise kritisiert Cherilyn im Track „So Petty So Pathetic“ ein paar Berliner Ticket-Kontrolleure, aber auch sich selbst, wie sie dem Deutschlandfunk erzählte: „Ich bin mit der Bahn gefahren, und mir gegenüber saß ein obdachloser Mann. Als die Ticket-Kontrolleure kamen, war seine Fahrkarte seit zehn Minuten abgelaufen, und sie haben ihn rausgeschmissen. Ich war so wütend! Ich bin nach Hause gegangen, und der Song ist aus mir herausgesprudelt. Ich habe mich über die Situation so geärgert, weil die Typen so kleinlich waren, aber auch über mich selbst. Warum habe ich nichts gesagt? Ich war einfach zu langsam.“
Ich möchte Euch die Band sowie einen Live-Auftritt auf alle Fälle sehr ans Herz legen. Es lohnt sich! Dear Reader sind noch den ganzen März auf Tour.