Fotos: Inken
Zum 17. Mal findet das Reeperbahn Festival wieder zur gewohnten Zeit im September statt. Zur großen Freude der Veranstalter*innen sowie der Besuchenden kann das Festival mit voller Auslastung an den Veranstaltungsorten planen, da die aktuellen Regelungen zur Corona-Pandemie vergleichsweise mild sind. Im vorigen Jahr mussten die Hygienevorschriften deutlich strenger ausfallen, natürlich zum Schutz aller, jedoch zeigten sich in der Umsetzung große Probleme, z.B. durften die Locations nur eine eher geringe Anzahl an Besuchende hereinlassen, was zu langen Schlangen, Einlass-Stopps und viel Frustration führte.
Nun aber wollen wir euch einen Einblick in das Festival geben und euch an unseren Highlights teilhaben lassen.
Mittwoch
John Moods
Sänger John Moods und seine Band-Kolleg*innen wirken allesamt jung und gleichzeitig fühlen wir uns in eine andere Zeit versetzt, da sie Kleidung tragen, die aus der Jugend unserer Eltern stammen könnte. Die Band, die den Nochtspeicher bespielt, wirkt untereinander vertraut und gut aufeinander abgestimmt. Musikalisch ist ihre Musik schwer einzuordnen, da sie sich irgendwo in rockigen, von Synthies durchzogenen, nach 60er/70er Jahre klingenden Sounds wiederfinden. Gekoppelt mit der zarten Stimme des Sängers, der alles mit einem Augenzwinkern von sich gibt, hat der Auftritt etwas sehr Stimmiges und Harmonisches. Die Band spielt Songs wie „It Ain‘t Your Time“, „So Sweet So Nice“ und „Dance With The Night“. „I Wanted You“ wird so inbrünstig und leidenschaftlich gesungen, da können wir den Refrain nicht so stehen lassen und dudeln mit. Zum letzten Song setzt sich John lässig an den Rand der Bühne und geht später durch das Publikum, was die Band noch nahbarer macht. Beim Vorstellen der Band wird zunächst nur Keyboarderin Martha vorgestellt, woraufhin der Sänger scherzhaft sagt, das reiche. Eine durchaus sympathische Band, die einen das Hier und Jetzt vergessen lässt!
Loyle Carner
Das erste Konzert im Stage Operettenhaus wird von Loyle Carner eröffnet und es hätte keinen besseren Einstieg geben können, oder wie das Reeperbahn Festival selbst über ihn schreibt: „Eine Legende in the making, die bei uns das Eröffnungskonzert spielen wird.“. Der Saal ist übervoll, wir haben Glück und können noch Plätze im oberen Rang erhaschen und dem Spektakel zuhören. Der aus Großbritannien stammende gefeierte Rapper zieht das gesamte Publikum in den Bann und gibt seine Stücke mal wütend und hart wie den neuen Track „Hate“, mal sanft, zum Besten. Loyle und der DJ selbst scheinen überwältigt zu sein und sagen „favorite place to play“, „I come back“ und „Love Love Love“. Unser Fazit: Loyle Carner ist ein Künstler, den man sich merken sollte.
Donnerstag
Nand
Nand spielt im Mojo Club. Anfangs gibt er preis, wie aufgeregt er sei, zappelt auf der Bühne hin und her und muss erst etwas warm werden. Dann kommen auch noch Tonprobleme dazu. Die Technik des im Hintergrund stehenden DJ-Pults bereitet Probleme. Das muss man leider in Kauf nehmen, wenn man nicht mit dem eigenen Equipment auftritt. Doch Ferdinand Kirch alias Nand stimmt mit seiner Trompete als Überbrückung „La vie en rose“ an und meint: „Wir überspielen dasjetzt einfach“. Das Publikum ist gut gelaunt und geduldig; heizt sich immer mehr auf und steigt auf die Improvisation und später auf Songs wie „Aperol Spritz“, „Schütten“, „Wohlfühlen“ und „Lust auf dich“ voller Enthusiasmus ein. Der musikalische Autodidakt animiert die Menge, sich noch mehr zu bewegen und eine gute Zeit zu haben, erzählt von persönlichen Schicksalsschlägen, aus denen er Inspiration für Texte wie beispielsweise „Wohlfühlen“ zog und dass die Musik eine Therapie für ihn ist. Damit möchte er Mut machen und ein Beispiel sein, aber uns „keinesfalls unter Druck setzen“, denn „man muss auch nichts Kreatives machen“. Beim Reden und Singen hat er die meiste Zeit die Augen geschlossen und tanzt, hüpft und rennt von einer Ecke der Bühne zur anderen. Wir mögen seine Art und seine Texte.
L.A. Salami
Wir freuen uns auf den Singer-Songwriter Lookman Adekunle Salami alias L.A. Salami, dessen Markenzeichen ein roter Anzug, eine Akustikgitarre und Mundharmonika sind. Er tritt in der St. Pauli-Kirche auf, was einen weiteren inneren Freudensprung auslöst. Von der zweiten bzw. später ersten Sitzreihe haben wir beste Sicht auf das Konzert. L.A. betritt die Bühne, stimmt zunächst seine Gitarre, spielt eine Melodie auf der Mundharmonika ein und spielt die ersten beiden Songs solo. Das Schlagzeug und ein Bass im Hintergrund lassen natürlich Spielraum und die Frage offen, ob sich noch jemand dazugesellt. Nach besagten zwei Liedern kommen auch die anderen Bandmitglieder auf die Bühne und weiter geht das Konzert. L.A.s Texte sind sozialkritisch, sie handeln von Terrorismus, Gentrifizierung, seinem Leben in London oder auch von der Liebe. Durch seine klare Stimme kann man den Geschichten immer gut folgen und zuhören. Neben dem bekannten Lied „Day to Day for 6 Days a Week“ werden z.B. auch „The Talis-Man on the Age of Class“ und „No Charms for the 2nd“ gespielt, bei denen insbesondere die Mundharmonika immer wieder zum Einsatz kommt. Zwar ist dieses Konzert ein eher ruhiges, doch L.A. ist nicht „einfach“ als Singer–Songwriter abzustempeln. In seinen bisher fünf veröffentlichten Alben und mehreren EPs vermischt sich mit den typischen Folk- und Blues-Elementen auch Hip-Hop und Rock. Die Atmosphäre in Kombination mit den ruhigen Melodien, seiner klaren Stimme, die wie von der Platte klingt und dem Ambiente, lassen alles noch schöner wirken. Leider wird die schöne Stimmung jedoch etwas getrübt, da bei fast jedem Song zuerst die Gitarre neu gestimmt werden muss, was vermutlich mit den Temperaturen und dem Spielort zusammenhängt. Das kostet recht viel Zeit, wo am Ende womöglich noch Platz für ein, zwei weitere schöne Songs gewesen wäre. Nichtsdestotrotz war es wunderbar, diesen Künstler live erleben zu können. Wir würden jederzeit wieder zu einem Konzert gehen.
Freitag
Meimuna
Das Konzert der französischen Sängerin Cyrielle Forma, welche hier als Duo auftritt und bislang drei EPs unter dem Namen Meimuna veröffentlichte, hätte nicht gegensätzlicher sein können. Die verträumten, poppigen Songs wie „Au temps des coquillages“, „Meimuna“ und „La Tristesse du Diable“, begleitet von schönen, ruhigen Gitarrenklängen, werden inmitten der großen Bühne auf dem belebten Spielbudenplatz an der Reeperbahn gespielt. Der Ort scheint auf den ersten Blick eher unpassend zu sein, jedoch gibt es einen großen Zulauf an Besuchenden, die Meimunas Klängen lauschen. Die Sängerinnen bestätigen unser Empfinden bzgl. der Location, und gleichzeitig ist während des Konzertes eine Stille im Publikum, wofür sie sich bedanken. Cyrielle erzählt, dass sie anfangs verängstigt und enttäuscht waren, auf dieser Bühne zu spielen. Der Hintergrund der Bühne wird außerdem großflächig von den Sponsoren des Festivals beleuchtet und ist nicht auf das jeweilige Konzert abgestimmt, so wurde auch nicht der Wunsch von der Sängerin erfüllt, die dem Publikum erzählt: „I asked if i can have a huge cat at the screen and they said no“. Am Ende waren sie jedoch erleichtert und konnten mit einem guten Gefühl auf der sogenannten Spielbude XL – Bühne spielen. Es verdeutlicht also einmal mehr, was ein ruhiges, zuhörendes Publikum ausmacht und dass Gespräche auf Konzerten nichts zu suchen haben.
Betterov
Am Freitagabend machen wir uns zeitig genug auf zur St. Michaelis Kirche, um Betterov und seinen persönlichen Texten zu lauschen. Das Konzert läuft unter dem Motto „Betterov & Friends – Die Reeperbahn Festival Session“ und inkludiert die Künstler*innen Novaa, Paula Hartmann, Fil Bo Riva und Olli Schulz. Nacheinander werden sie einzeln auf der Bühne begrüßt, herzlich umarmt und Betterov performt mit jeder/jedem einen Song im Duett von ihnen und einen seiner eigenen. Unter anderem werden „Bring mich nach Hause“, „Angst“ und „Bis zum Ende“ performt. Betterov merkt zu Anfang an, dass der Bauer des Michels diesen nicht darauf ausgelegte, dass hier so viele Menschen stampfen. Aber Klatschen sei ok! Außerdem erzählt der Wahl-Berliner, dass er nun zum siebenten Mal auf dem Reeperbahn Festival auftritt, obwohl man wohl nur einmal auf diesem Festival auftrete. Manuel Bittorf alias Betterov betont, dass das Reeperbahn Festival selbst 2020 unter einem besonders guten Hygienekonzept stattfand, obwohl sonst alle Touren pandemiebedingt abgesagt wurden. Betterov kündigt seine Platte „Olympia“ an, welche am 14.10. erscheint und zum Schluss wird „Dussmann“ performt, wozu die geladenen Künstler*innen erneut auf die Bühne kommen und gemeinsam singen.
Ghostly Kisses
Das Trio, bestehend aus der französisch-kanadischen Singer-Songwriterin Margaux Sauvé, die neben dem Gesang noch die Violine spielt, dem Gitarristen und dem Keyboarder, spielt in dem wunderschönen Imperial Theater. Das Ambiente passt wunderbar zum Konzert; ihre Stücke, die sich zwischen ruhigen Klängen und Indietronica bewegen und teils ineinander überfließen, harmonieren mit dem Bühnenbild vom aktuell aufgeführten Stück im Theater, bestehend aus alten Bücherregalen und Gemälden, die sich im Hintergrund befinden. Die Musik von Ghostly Kisses, die eine Mischung aus Dream Pop und Deep House ist, lädt gleichermaßen zum Träumen und Tanzen ein, doch da es sich um ein Sitzkonzert handelt, wird nur mit dem Oberkörper gewackelt oder den Füßen gewippt. Ihr teils düsterer Klang, vereint mit tanzbaren Elementen, wirkt sehr stimmig am genannten Spielort und Lieder wie „Heartbeat“, „The City Holds My Heart“ und „Blackbirds“ werden gespielt. Die zurückhaltende Sängerin bedankt sich zwischenzeitlich für die Ruhe im Publikum und sagt „Never seen a festival this quiet“ und „You were such a pleasant and relaxed audience“. Im Grunde ein Kompliment an das Publikum, jedoch ein weiterer Fall der zeigt, dass es offenbar leider nicht mehr selbstverständlich ist, ein Konzert ohne „Dazwischengequatsche“ spielen zu können.
Samstag
Anna Calvi
Heute dürfen wir zwei Konzerte in der berüchtigte Elbphilharmonie sehen. Es ist schon ein eindrucksvolles Spektakel, wieder hier sein zu dürfen. Zunächst fahren wir die schier endlos scheinenden Rolltreppen nach oben und besuchen ein Konzert von Anna Calvi. Die Britin ist ein absoluter Profi und passt ausgezeichnet in dieses Ambiente. Die Band wird durch ein Streicherquartett ergänzt, welches sich perfekt in das Ambiente einfügt. Gespielt werden Songs wie „Wish“, „Love Won’t Be Leaving“ und „Hunter“. Spätestens beim Song „Swimmingpool Pool“ und den dazu passenden türkisfarbenen Lichteffekten sind wir verzaubert vom Auftritt dieser kleinen Frau mit der gewaltigen Stimmt und ihren hochwertigen imposanten Gitarrensoli.
HighSchool
Das junge australische Trio HighSchool spielt auf dem Festival insgesamt drei Konzerte, wir schaffen es zum letzten Auftritt, welches im Resonanzraum stattfindet. Die Musiker*innen befinden sich auf einer kreisrunden Bühne und bevor es losgeht, wird dem Publikum mitgeteilt, dass das Konzert von allen Seiten gefilmt wird. Mit ihrer im Jahr 2021 veröffentlichten Debüt-EP „Forever At Last“ im Gepäck, die sie wegen der Pandemie noch nicht oft live zum Besten geben konnten, startet die Band direkt mit Synthies, Gitarren und einer tiefen Stimme. Eine Person aus dem Publikum, die hinter uns steht, fasst das Genre bzw. die Musikrichtung perfekt zusammen und sagt: „Sie klingen wie eine Mischung aus The Smiths, The Strokes und Arctic Moneys.“ Besser hätte es nicht auf den Punkt gebracht werden können. Wir sind von den Klängen und dem Talent der Band vollkommen verzaubert und durch die ganzen Kameras fühlen wir uns, als wenn gerade ein Musikvideo gedreht wird. Bitte unbedingt merken und anhören!
Warhaus
Elbphilharmonie, die zweite! Mit einem kurzen Abstecher im Resonanzraum und überragend gutem Konzert von HighSchool sind wir für Warhaus erneut in der „Elphi“. Da wir große Fans der belgischen Indie-Rocker Balthazar sind und auch der Solo-Projekte des Sängers Jinte Deprez alias J. Bernardt sowie von Maarten
Devoldere alias Warhaus, steht außer Frage, Warhaus in dieser einzigartigen Location zu sehen. DieVors tellung ist spannend, dass Sänger Maarten in der Elphi auftritt, da wir ihn eher verpeilt und mit einem Drink zu viel in der Hand auf der Bühne kennen. Tatsächlich wirkt der Sänger, nachdem die Band die Bühne betritt und die ersten Stücke spielt, man könnte sagen seriös, vernünftig, doch das vergeht schnell, als er während eines Liedes zu einem losen Scheinwerfer greift und sowohl die Bandmitglieder als auch das Publikum anstrahlt. Irgendwie auch passend, so kennen wir ihn. Dennoch ist das Konzert sehr professionell, was vor allem auch an der guten Klangqualität liegt.
Warhaus, neben dem Sänger bestehend aus einem Bassisten, dem Multiinstrumentalisten Jasper Maekelberg (welcher auch durch Faces On TV bekannt ist) und den Balthazar-Mitgliedern Michiel Balcaen am Schlagzeug sowie Tijs Delbeke, der ebenso sämtliche Instrumente wie Violine, Posaune und Gitarre spielt, wirkt musikalisch zunächst wie ein wildes Durcheinander, doch am Ende ergeben die Stücke immer ein perfektes Ganzes. In vielen Songs wirkt die Sängerin Sylvie Kreusch ursprünglich mit, doch leider haben wir sie während Warhaus-Konzerte noch nie live erlebt. Ihre Gesangseinlagen werden jedoch perfekt von Jasper und Tijs übernommen, wie z.B. in „Love‘s a Stranger“ und „I‘m Not Him“. Als „Mad World“ gespielt wird, wird der Gesang in der Mitte des Songs immer leiser, er haucht die Töne zart ins Mikrofon, um danach umso pompöser fortzufahren. Maarten animiert das Publikum, bei „la la la la la la la“ einzusetzen und sagt zuvor scherzhaft in etwa, das können die Deutschen mitsingen. Zu „Fall in Love With Me“ wird es dafür sehr intim. Alle Bandmitglieder verlassen die Bühne, sodass Maarten alleine auf der Bühne steht und das wunderschön traurige Stück mit seiner Akustikgitarre spielt. Beim Stück „Beaches“ wiederum verlässt er die Bühne und gibt den weiteren Bandmitgliedern den großen Auftritt und ein dickes Solo. Trommeln, Violine, verschiedenste Klanghölzer, Keyboard, Posaune, ein E-Drum-Pad und die von Maarten gespielte Trompete – all die Instrumente kommen nicht zu kurz und ergeben den typischen Warhaus-Sound. Charakteristisch für die Songs ist es, diese in die Länge zu ziehen und bis zum Schluss auszureizen, gepaart mit dem verruchten Sound und der nuscheligen, mal rauen, mal hauchenden Stimme des Sängers. Neben den genannten Songs, die von seinen ersten beiden LPs aus den Jahren 2016 und 2017 stammen („We Fucked a Flame Into Being“ & „Warhaus“) werden ein paar wenige neue Songs gespielt, die Warhaus im Laufe dieses Jahres veröffentlichte. Die neue, dritte LP „Ha Ha Heartbreak“ wird nicht mehr lange auf sich warten und ist vermutlich ab dem 11.11.2022 verfügbar. Für eine Zugabe kommt Warhaus natürlich noch einmal auf die Bühne, was bei dem Geklatsche und den „Zugabe“-Rufen auch nicht anders gegangen wäre. Das letzte Stück ist eins der neuen Auskopplungen namens „Open Window“. In dem eher ruhigen Song ist klar der altbekannte Warhaus-Sound herauszuhören, sodass zu vermuten ist, dass sich stilistisch auf der neuen Platte nichts großartig ändern wird. In „Open Window“ wird noch einmal alles ausgereizt, was nur geht. Live kommt der Song mit einer unglaublichen Wucht daher, und mit dem wunderbaren Ohrwurm, den wir noch im Anschluss an das Konzert beim Herumschlendern durch die Elphi von vielen Menschen um uns herum durch ein Summen, Pfeifen oder Lallen hören, endet ein großartiges Konzert und somit auch unser Reeperbahn Festival. Wir beschließen, nicht noch weiter umherzuziehen und lassen das Konzert als krönenden Abschluss stehen.
Text: Anne & Inken